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Filmkritik zum Lehrfilm „Radikal“

Der Film „Radikal" offeriert eine Identifikationsfigur in Gestalt eines jungen Mannes, der in einem sogenannten sozialen Brennpunkt mit seiner „dysfunktionalen" (Alkoholismus, Arbeitslosigkeit) Familie lebt und ein schlechter Schüler ist.
In drei Sequenzen wird der Einfluss von Gleichaltrigen und Internetinhalten auf seinen Radikalisierungsprozess in die rechts-und linksextremistische Szene sowie in den Salafismus dargestellt.
Folgende Fragen und somit Problematiken ergeben sich aus dem Film:
- Wie unterscheidet sich der Linksextremismus vom Rechtsextremismus? Und wie unterscheiden sich diese extremistischen Diskurse vom Salafismus?
Der Film lässt den Eindruck entstehen, dass sich alle drei extremistischen Einstellungen und Handlungsweisen vergleichen lassen bzw. alle drei eine insgesamt gleichgroße gesellschaftliche Gefährdung darstellen.

https://www.bpb.de/politik/extremismus/linksextremismus/33589/rechts-und-linksextremismus-islamismus 
- Gibt es konkrete Faktoren, die immer zu einem Radikalisierungsprozess führen? (Soziale Herkunft, kultureller Kontext, Geschlecht, Alter?)
Durch den Hauptdarsteller und die immer gleichen sozialen Faktoren, die dargestellt werden, entsteht der Eindruck, Radikalisierungsprozesse beträfen immer
- junge Männer
- aus sozial schwachen Milieus
- die gewaltverherrlichende Medieninhalte über das Internet konsumieren

Salafismus:
„Es gibt viele Ursachen für Radikalisierung. Sie ist keine Frage des Geschlechts oder der sozialen Herkunft und kann in allen Ebenen der Gesellschaft stattfinden, unabhängig von wirtschaftlichen Gegebenheiten oder Schulabschlüssen. Obwohl Radikalisierung ein individueller Prozess ist, lassen sich zumindest bei den deutschen Aktivisten Ähnlichkeiten in der Biographie feststellen: Bei den Ausreisenden handelt es oft um Jugendliche mit Identitätsproblemen auf der Suche nach starken Gruppenerlebnissen und Lebenssinn. Sie wollen eine Rolle in der Gesellschaft haben, die ihnen oft – so ihre eigene Wahrnehmung – verwehrt wird. Von ihren Eltern bekommen sie den Vorwurf zu hören "wie die Deutschen zu sein", von der Gesellschaft werden sie als "Muslime" problematisiert. So brechen viele im Kontext ihrer Radikalisierung mit ihrem bisherigen sozialen Umfeld. Die Loslösung von der Familie und dem bisherigen Freundeskreis im Vorfeld der Ausreise wird meistens von der wachsenden Einbindung in eine salafistische Gruppe begleitet.[2]

Bei genauer Betrachtung lassen sich die Ausreisenden grob in vier Kategorien typisieren, wobei Mischmotivationen die Regel sind:
• ideologisch Überzeugte,
• Abenteurer und Mitläufer,
• "Neu- und Wiedergeborene", die ihre meist kriminelle Vergangenheit damit abbüßen wollen
• und diejenigen, die glauben, dass sie ihre Gewalt- und Tötungsphantasien im Bürgerkrieg unbestraft ausleben können."
Aus: „Syrien Ausreisende und –Rückkehrer – ein Überblick", Bundeszentrale für politische Bildung, Juni 2015
http://www.bpb.de/politik/extremismus/islamismus/207441/syrien-ausreisende-und-rueckkehrer

Rechtsextremismus:
„Für die Entwicklung von rassistischen Einstellungen und Handlungsanlagen
bei Jugendlichen spielen die Familien, das soziale Umfeld sowie ihre
Kultur und Geschichte eine entscheidende Rolle. Auch wenn der Kontakt zu
rechten Szenen auf Zufälligkeiten und Gelegenheitsstrukturen beruht, ist die
für die Jugendlichen damit verbundene Bedeutung keinesfalls zufällig, sondern biografisch bedingt. Die vom Forschungsteam erfassten biografischen Verläufe geben Auskunft darüber, warum einige Jugendliche anfälliger für rechtsextreme Ideologien sind oder sich an gewalttätigen Angriffen beteiligen, während andere, die unter vergleichbaren gesellschaftlichen Bedingungen leben, dies nicht tun. Aus dem umfangreichen Datenmaterial haben die Forschenden drei unterschiedliche familiäre Muster und biografische Verlaufsformen fest gemacht, die rechtsextreme Einstellungen und Gewalttaten begünstigen:
– Abgrenzung durch Überanpassung – Radikalisierung der Werte und
Normen des Herkunftsmilieus;
– Gewalt, Missachtung und Suche nach Anerkennung;
– Nicht-Wahrnehmung und Suche nach Erfahrung, Sicherheit und Differenz."
Aus: Jugendliche und Rechtsextremismus: Opfer, Täter, Aussteiger
Wie erfahren Jugendliche rechtsextreme Gewalt, welche
biografischen Faktoren beeinflussen den Einstieg, was motiviert
zum Ausstieg?
Herausgegeben von der Fachstelle für Rassismusbekämpfung, Schweiz

Linksextremismus:
„Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Linksextremismus ist im Unterschied zum Rechtsextremismus weniger stark ausgeprägt. Dies gilt insbesondere für die empirische Erforschung des Linksextremis¬mus. Die vorhandenen Studien bedienen sich quantitativer Methoden.9 Qualitative Sozialforschung im Bereich Linksextremismus beschreitet Neuland."
Aus: LINKSEXTREMISMUS IN DEUTSCHLAND: ERSCHEINUNGSBILD UND WIRKUNG AUF JUGENDLICHE AUSWERTUNG EINER QUALITATIVEN EXPLORATIVEN STUDIE, Konrad Adenauer Stiftung 2012

- Welche Rolle spielt das Internet in Radikalisierungsprozessen?
Ähnlich wie bei der Annahme, Amokläufe stünden im Zusammenhang mit Computerspielen, wird in dem Film der Eindruck erweckt, gewaltverherrlichende Internetinhalte würden zu gewaltbereitem Verhalten führen.
„Die Forschung, die sich unmittelbar mit dem Zusammenhang des Internets und Radikalisierungsprozessen, insbesondere Jugendlicher, befasst, muss als ausgesprochen bruchstückhaft bezeichnet werden. […] Die große Mehrheit an Publikationen zum Thema Online-Radikalisierung liegt jedoch vor allem in Form theoretischer Abhandlungen vor. Dort werden Zusammenhänge zwischen dem Internet und Radikalisierungsprozessen zwar plausibilisiert, jedoch nur selten empirisch fundiert."
Aus: Radikalisierung Jugendlicher über das Internet? Ein Literaturüberblick, Deutsches Institut für Vertrauen und Sicherheit im Internet, Oktober 2016
https://www.divsi.de/publikationen/studien/radikalisierung-jugendlicher-ueber-das-internet-ein-literaturueberblick/

Zusammenfassung:
Der Film „Radikal" versucht in kurzer Laufzeit, das übergeordnete Thema Extremismus „jugendaffin" (schnelle Schnitte, hochwertige Produktion, Jugend- bzw. Fäkalsprache, Ästhetik eines Musikvideos) aufzugreifen.
Dabei bedient er sich ausschließlich an stereotypischen Bildern, die wissenschaftlich nicht oder nur bruchstückhaft bestätigt sind und reduziert die wichtigen Auseinandersetzungen mit extremistischen Strömungen somit auf eine klischeehafte Darstellung, die alle Grauzonen von extremistischem Gedankengut, Radikalisierungsprozessen und Gewaltbereitschaften von Jugendlichen ausklammert.
Der Titel des Filmes lädt außerdem zu einer Auseinandersetzung mit den Unterschieden von Begrifflichkeiten ein: dabei ist die Differenzierung zwischen „radial", „extremistisch" und „populistisch" zwingend notwendig.


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